Prof. Dr. Seng, Anja: FOM Hochschule für Oekonomie & Management, Essen

Profil
Prof. Dr. Anja Seng ist seit 2002 an der FOM Hochschule für Oekonomie und Management in Essen tätig, seit 2007 als Professorin für Betriebswirtschaftslehre, insb. Personalmanagement. Sie ist Expertin für Employer Branding, Diversity Management, Mentoring und Unconscious Bias. Seit 2012 ist die 48-jährige Rektoratsbeauftragte für Diversity Management, seit 2021 für Chancengerechtigkeit. Seit 2018 forscht sie als stellvertretende Direktorin des Instituts für Public Management ifpm im Kontext Führung & Digitalisierung in der öffentlichen Verwaltung. Ergänzend ist sie selbständige Unternehmensberaterin mit den Schwerpunkten Personalmarketing, Employer Branding sowie Diversity (Management) und Karriere von Frauen in Führungspositionen.

Sie engagiert sich ehrenamtlich als Vizepräsidentin bei FidAR e.V. und als Mentorin bei IWiL (Initiative Women into Leadership (Gemeinnütziger Verein zur nachhaltigen Entwicklung weiblicher Führungskräfte) sowie bei Zonta International.

Auszug aus ihren Forschungsprojekten:

2020 – 2022 INQA Experimentierraum AgilKom Arbeiten in der agilen Kommune; 2019 – 2019  FührDiV Führung in der digitalisierten öffentlichen Verwaltung;  seit 2018

Diversity Monitor; 2013 – 2014 Diversity Management in der Lehre; 2012 – 2013 Akzeptanz der Frauenquote; 2007 – 2009 Frauen in der industriellen Forschung, Entwicklung und Innovation in der chemischen Industrie in NRW

 

 

Prof. Dr. Anja Seng im Gespräch mit Vera Wiehe über Chancengerechtigkeit für Frauen in Wissenschaft und Wirtschaft

Sie sind engagierte Expertin für Personalmanagement mit einem Fokus auf das Thema Chancengerechtigkeit für Frauen in der Wirtschaft. Was hat Sie motiviert, die Rahmenbedingungen für Frauen in Unternehmen zu erforschen?

Tatsächlich bin ich über ein Forschungsprojekt dazu gekommen. In meinem Leben hatte sich alles gut gefügt. So hatte ich bereits mit Mitte 20 eine Führungsposition inne und habe ein Team von 18 Leuten geleitet. Und ich habe zwei Kinder und einen Partner, der mich auf meinem Weg aktiv unterstützt. Deshalb habe ich lange geglaubt, dass ich und jede andere alles schaffen kann, wenn ich oder sie nur will.
Irgendwann mit knapp 30 Jahren wurde ich eher zufällig verantwortlich für ein Forschungsprojekt zum Thema Karrieren von Frauen in der Forschung & Entwicklung der chemischen Industrie. Ich war neu in dem Feld und bin angetreten, um zu zeigen, dass Karriere geht, wenn die Frauen nur wollen. Das waren drei wirklich harte Jahre für mich. Ich habe empirisch nachgewiesen, dass meine Weltanschauung falsch war und mir wurden über die Wahrheit „da draußen“ die Augen geöffnet. Seitdem setze ich mich aktiv für das Thema Frauen und Karriere und vor allem Frauen in Führungspositionen ein.

Ich betreue gerne Abschlussarbeiten in dem Feld. Es gibt auch heute junge Frauen, die überzeugt sind, dass es keine Aufstiegsprobleme für Frauen gibt. Diese Studentinnen machen im Rahmen ihrer Forschung dieselbe Erfahrung wie ich damals: sie lesen von all den Schwierigkeiten, von der gläsernen Decke, von den Problemen Beruf und Familie zu vereinbaren, von strukturellen Benachteiligungen und Diskriminierung. Sie interviewen weibliche Führungskräfte, stellen fest, dass es kaum Frauen in Führung gibt und dass diejenigen, die es gibt, Erfahrungen mit Diskriminierung und gläserner Decke kennen. Ich habe nicht selten erschütterte Studentinnen erlebt, die im Rahmen ihrer Abschlussarbeit auf strukturelle Diskriminierung stoßen und sich selbst hinterfragen müssen.

Der amerikanische Dokumentarfilm „Picture a Scientist – Frauen der Wissenschaft“ hat mich sehr beeindruckt, weil am Beispiel von Einzelschicksalen die Struktur der Diskriminierung von Frauen in Wissenschaft und Hochschulen auf sehr souveräne Art und Weise sichtbar gemacht wird. Es wurde sehr überzeugend deutlich, wie wichtig Zahlen und Fakten sowie Vernetzung und Sichtbarkeit nach außen sind und wie mit Beharrlichkeit Veränderung erreicht werden kann. Es ist unter Umständen ein langer Weg, aber es lohnt sich einfach, etwas zu tun.

Lässt sich die Situation der Frauen aus dem amerikanischen Film auf die heutige Situation von Frauen im deutschen Wissenschaftsbetrieb übertragen?

Das kann ich nicht beurteilen, weil unsere private Hochschule anders strukturiert ist als die Öffentlichen. Vor zwei Jahren habe ich im Rahmen des Forschungsprojekts zu Frauen in der chemischen Industrie recherchiert mit dem Ergebnis, dass der Anteil der weiblichen Beschäftigten auch mit Promotion zwar steigt, aber wir sind noch immer von den relevanten 30 % entfernt sind.  Die Leaky Pipeline finden wir an den Hochschulen vergleichbar wie in der Industrie oder auch im öffentlichen Bereich. Die traditionellen Geschlechtsklischees wirken noch immer und überall dort, wo es Abhängigkeitsverhältnisse gibt, besteht ein höheres Risiko in Bezug auf Diskriminierung und zu Sexismus.

Was schlagen Sie vor, um die Situation für Frauen zu verbessern?

Die Schweizer Professorin Iris Bohnet, die in Harvard lehrt, hat ein sehr kluges Buch geschrieben: „What works – Wie Verhaltensdesign die Gleichstellung revolutionieren kann.“  Sie ist überzeugt, nicht die Frauen müssen sich ändern, sondern die Spielregeln. Sie belegt, dass die Ursachen für Ungleichbehandlung von Frauen oft verzerrte Wahrnehmungen und unbewusste Vorurteile sind, die unsere Entscheidungen beeinflussen, auch wenn wir glauben, objektiv zu bewerten. Dabei sollten wir bedenken, dass dies nicht nur in Bezug auf das Geschlecht gilt, sondern auch für andere Aspekte von Vielfalt – seien es eher die klassischen Dimensionen wie Alter oder ethnische Herkunft, aber auch Aspekte wie soziale Herkunft oder individuelle Erfahrungsbereiche etc.

So kann die nach wie vor bestehende Benachteiligung von Frauen bei Einstellung, Beförderung oder Gehalt durch veränderte Strukturen wie z.B. Auswahlprozesse verbessert werden.

Bewertungen sind dabei ein wichtiges Thema. Sie werden meist im Bezug zu den jeweiligen Namen und Gesichtern – im Einstellungsprozess in Form von Fotos – vorgenommen. Je stärker wir dieses neutralisieren, umso objektiver fällt die Auswahl aus. So versuche ich persönlich schon keine Namen von meinen Studierenden zu lernen, weil ich die Korrektur von Arbeiten möglichst unbelastet und eben ohne diese Bilder im Kopf vornehmen möchte.

Wir müssen die Strukturen verändern. Es müssen konkrete Ziele definiert werden, gerade auch für Führungskräfte als Teil ihrer Zielvereinbarungen. Auswahlteams sollten in sich gemischt zusammengesetzt werden und die verschiedenen Bereiche der Organisationen widerspiegeln.

Ich bin Verfechterin der Quote. Statt auf gesetzliche Quoten zu warten, können Organisationen selbst mit Zielgrößen arbeiten. Wichtig ist es ein Niveau von 30 % zu erreichen – jeweils für die Gruppe, die wenig oder weniger vertreten ist. Erst dann wird eine Minderheit nicht mehr als solche wahrgenommen.  Entscheidend ist dabei aber auch, dass die Organisationen inhaltlich hinter dieser Vorgehensweise stehen, dass Gleichstellung Teil der DNA der Organisationskultur wird.

Sie sind in drei Frauennetzwerken engagiert. Welches ist Ihr Lieblingsnetzwerk?

Ich habe bewusst drei Netzwerke mit sehr unterschiedlichen Ausrichtungen gewählt, in die ich mich aktiv einbringe und ich schätze alle drei sehr aufgrund ihrer Unterschiedlichkeit.

Zonta ist ein internationales Frauennetzwerk, dass weltweit gegen Gewalt gegen Frauen agiert und sich daher u.a. für den Zugang von Frauen und Mädchen zu Bildung und freier Berufswahl engagiert. Wir sehen Bildung als Schlüssel, damit Frauen ihr Leben selbstbestimmt gestalten können. Hier vor Ort agieren wir sehr lokal und fördern z.B. das Essener Frauenhaus oder eine Jugendeinrichtung für Mädchen. Ich mag diese Kombination lokaler und globaler Aktivitäten.  

Bei FidAR e.V.  geht es mit starker politischer Intention darum, sich für gleichberechtigte Teilhabe in Führungspositionen zu engagieren – ganz konkret: mehr Frauen in die deutschen Aufsichtsgremien zu bringen. Dazu braucht es den gesetzlichen Rahmen, das haben wir mit dem ersten FüPoG 2015 gesehen. Die Vorgaben waren bereits 2018 von den betroffenen Unternehmen umgesetzt, was vorher kaum für möglich gehalten wurde. Wenn wir jetzt über das FüPoG II reden, also u.a. die Mindestbeteiligung von Frauen an den Vorständen, kommen die alten Sorgen wieder hoch, aber ich bin mir sicher, dass die Umsetzung genauso gut funktionieren wird.

Bei FidAR setzen wir uns stark für Transparenz zum Thema Frauen in Führung ein. Der Verein führt Analysen zur Gleichstellung von Frauen durch und veröffentlicht diese jährlich. Über Jahre hinweg kann man verfolgen, wie sich die Situation entwickelt hat. Die FidAR-Analyse 2021 belegt, dass in 62 Dax-Unternehmen die Männer im Vorstand noch immer unter sich bleiben.

Bei IWiL (Initiative Women into Leadership) handelt es sich um ein erfolgreiches Cross-Mentoring Programm für weibliche Nachwuchskräfte in Unternehmen. Hier unterstützen wir karriereorientierte weibliche Führungskräfte beim nächsten Schritt ins Top-Management und begleiten die Frauen auf ihrem Weg.

Mit diesen Netzwerken arbeite ich also auf der internationalen, der strukturellen und der persönlichen Ebne und ich kann gar nicht sagen, war mir am liebsten ist.

Sie haben zum Beginn gesagt, dass Sie oft Glück gehabt haben, was sind ihre Erfolgseigenschaften oder Erfolgskriterien?

Erfolg ist aus meiner Sicht etwas sehr Subjektives. Ich verstehe es für mich persönlich so, dass ich dann erfolgreich bin, wenn ich mein Ziel erreicht habe. Das heißt, ich muss mir über meine Ziele im Klaren sein. Wichtig dabei ist, dass ich mir selbst treu bleibe. Ich stehe zu meinen Erwartungen und Einstellungen und diskutiere diese auch aus. Ich bin zwar streitbar, lasse ich mich aber durchaus von anderen Positionen oder besseren Argumenten überzeugen.

Einer Ihrer Arbeitsschwerpunkte ist Digitalisierung. Welche Auswirkungen hat die Digitalisierung auf Frauen in der Wirtschaft?

Die Digitalisierung ist ein Prozess, zu dessen Auswirkungen ich mir kein abschließendes Urteil erlauben möchte. Die Digitalisierung kann Möglichkeiten schaffen. Arbeitsweisen flexibilisieren sich dadurch, dass wir mit einem Laptop von überall zu jeder Zeit arbeiten können. Wir können also durch Digitalisierung eine wunderbare Grundlage schaffen, aber nur solange die Haltung und das Führungsverständnis in der Organisation mitgehen und solange den Mitarbeitenden Vertrauen und Wertschätzung gegenüber gebracht wird.

Digitalisierung hat die technische Basis geliefert, aber Corona hat die Arbeitsweisen auf den Kopf gestellt, die Veränderungsmöglichkeiten aufgezeigt und deutlich gemacht, dass wir etablierte Arbeitsformen verändern müssen – und auch können. Digitalisierung ist also weit mehr als Technik; es geht darum, Bestehendes zu hinterfragen, neue Ansätze zu identifizieren und für Beschäftigt ebenso wie für Kundinnen und Kunden bessere Prozesse einzuführen. Das ist gar nicht so einfach – denn dafür gilt es zunächst zu hinterfragen, wie eigentlich bestehende Strukturen funktionieren, wer beteiligt ist und wie die Menschen damit umgehen.

Am ifpm Institut für Public Management haben wir im Rahmen eines vom BMBF geförderten Projektes einen Selbstcheck entwickelt, mit dem sehr niedrigschwellig solche Strukturen im spezifischen Kontext von Digitalisierung in der öffentlichen Verwaltung reflektiert und somit Veränderungspotentiale für die Themen Führung, Wissen & Kompetenz und Gesundheit aufgedeckt werden können.

Durch diese Selbstreflektion wird Raum für Veränderungen geschaffen. Organisationen haben viele neue Tools eingeführt, die das virtuelle Arbeiten erleichtern sollten. Und nun stellt sich die Frage, wie wir nach Corona arbeiten wollen. Kommen die Menschen aus den Homeoffices zurück in die Büros? Was bleibt von dem, was in den letzten Monaten „anders“ geworden ist als früher? Welche Arbeitsweise hat welche Vor- und Nachteile – für die einzelnen Beschäftigten ebenso wie für die Organisation insgesamt? Können vielleicht sogar Büroflächen reduziert und Mietkosten gespart werden? Es heißt, dass ein Drittel der Büros oder Schreibtischflächen abgeschafft werden könnte.

All diese Aspekte sind nicht gender-spezifisch, sondern gelten für alle gleichermaßen. Mit Bezug zur Situation von Frauen sehe ich aktuell leider eher die Gefahr einer Retraditionalisierung – und das ist unabhängig von der Digitalisierung. Denn ich beobachte auch bei der jungen Generation nach wie vor das Bestehen von Rollenklischees. Sind die Menschen bereit für ein gesellschaftliches Umdenken? Hier sind alle gefragt: Gesellschaft und Individuum, Wirtschaft und Politik. Ich hoffe, dass diese Zeit positive Veränderungen bringt, da wir nun erlebt haben, dass Arbeitsgestaltung auch anders funktioniert. Erst wenn Männer und Frauen dauerhaft in der Lage sind, über Arbeitsort und Arbeitszeitgestaltung individuell und partnerschaftlich zu verfügen, werden sich auch die Sorge-Aufgaben anders verteilen können.

Welche Tipps haben Sie für karriereorientierte Frauen?

Wichtig ist es, die eigenen Stärken zu reflektieren, dann auf ein klares Ziel hinzuarbeiten und sich Verbündete zu suchen, die für dieses Ziel relevant sind. Ein Netzwerk von Menschen zu haben, bedeutet aber nicht nur, zu erwarten, dass jemand etwas für mich tut. Netzwerken ist immer ein Geben und ein Nehmen. Das heißt, man muss gemeinsam irgendetwas tun. Dazu gehört zum Beispiel: empfehle jeden Tag eine gute Frau.

Welche Frage, die ich nicht gestellt habe, möchten Sie noch beantworten?

Ein Thema, das mir sehr am Herzen liegt: jede Frau sollte wählen gehen. Wir haben in diesem Herbst Bundestagswahl, ich halte es für unsere demokratische Pflicht das Wahlrecht wahrzunehmen, die Wahlprogramme zu überprüfen und bewusst das Kreuzchen zu setzen. Nicht zu wählen bedeutet die Unterstützung derjenigen, die den Status Quo in einer meist sehr radikalen Art und Weise abschaffen wollen.