Végh, Christina: Direktorin Kunsthalle Bielefeld

„Es ist mir ein Anliegen, dass klar wird, dass die Kunst immer in Verbindung mit unserem Leben steht.“

Kurzportrait:

Christina Végh studierte Kunstgeschichte, Ethnologie und Philosophie an der Universität Zürich sowie an der University of Calilfornia in Santa Cruz. Ihren beruflichen Einstieg fand sie als Kuratorin an der Kunsthalle Basel, wo sie mit Peter Pakesch und Adam Szymczyk arbeitete. Im Jahr 2005 übernahm sie die Leitung des Bonner Kunstvereins. Dort wurde sie unter anderem für ihre „experimentelle Kunstvermittlung für Kinder und Jugendliche“ und die erfolgreiche Sanierung des Hauses ausgezeichnet. Ab Mai 2015 war Christina Végh als erste Frau die 11. Direktorin der Kestner Gesellschaft in Hannover. Im Februar 2020 übernahm die 50-Jährige in der Nachfolge von Friedrich Meschede (wiederum als erste Frau) die Leitung der Kunsthalle Bielefeld. Ihre kuratorische Arbeit zeichnet sich durch generationenübergreifende Ansätze aus mit einem besonderen Augenmerk auf die jüngere Geschichte der Malerei und die Konzeptkunst seit den 1970er Jahren.

Vera Wiehe im Gespräch mit Christina Végh, Direktorin der Kunsthalle Bielefeld über Karrieren für Frauen im Kunstbetrieb

Was waren Ihre wichtigsten Karriereschritte?

Der wichtigste Schritt war rückblickend der gute Einstieg ins Berufsleben nach dem Studium. Ich hatte das Glück noch als Studentin für eine international renommierte Zeitschrift einen längeren Aufsatz zu publizieren und meine erste Stelle an der Kunsthalle Basel anzutreten. Damals wusste ich noch gar nicht, dass die Kunsthalle Basel eine solche Dimensionskraft hat. Sie gehört zu den international wichtigsten Institutionen für zeitgenössische Kunst. Ich konnte sehr viel lernen und ich bin auf ein großartiges Umfeld getroffen mit einem sehr guten Vorgesetzten, der mich gefördert hat und mit dem ich bis heute gut befreundet bin. Ich denke, dass die ersten Schritte, die man macht, die schwierigsten und sehr entscheidend sind, ein guter Einstieg erleichtert auf jeden Fall die darauffolgenden Schritte vehement.

Hatten sie einen bestimmten Karriereplan nach dem Studium?

Nein, ich kann von mir sagen, dass ich immer meinen Interessen gefolgt bin. Ich habe darauf vertraut, dass sich Wege öffnen, wenn ich das tue, wofür mein Herz schlägt. Ich hatte – aus heutiger Sicht erstaunlich – keine Vorstellung darüber, dass ich jemals eine Institution leiten wollte. Das wagte ich damals nicht, mir vorzustellen. Ich wusste nur, dass ich gerne gestalte und dadurch gerne etwas bewege, dass ich versuchen wollte, meinen Interessen treu bleiben zu können und auf jeden Fall war mir immer klar, dass ich irgendwann einmal gerne eine Familie gründen würde.

Bevor Sie nach Bielefeld kamen, waren Sie Direktorin der Kestner Gesellschaft in Hannover. Was war der Anreiz Hannover für Bielefeld zu verlassen?

Zu dem Zeitpunkt habe ich eigentlich keine Stelle gesucht. Aber es war klar, dass ich längerfristig sehr gerne in einem Museum arbeiten würde. Die Kunsthalle verfügt über eine ausgesprochen gute Sammlung. Zuvor war ich immer in so genannten Wechselausstellungsbetrieben tätig, das heißt in Häusern, die über keine Sammlung verfügen. Das Interesse, mit einer Sammlung auch am kulturellen Gedächtnis mitzuarbeiten, war ausschlaggebend, mich für die Kunsthalle Bielefeld zu entscheiden.

Wie ist es für eine Schweizerin in den Teutoburger Wald zu kommen?

Ich habe die Berge vor 15 Jahren verlassen und musste bei meiner ersten Stelle in Bonn über das Siebengebirge im Rheinland schmunzeln. Dann in Hannover wurde es noch flacher und jetzt bin ich diejenige in der Familie, die am Ehesten daran gewöhnt ist, steile Straßen mit dem Fahrrad zu bezwingen. Ich finde es sehr schön hier. Da wir fast schon im Lockdown hierhergekommen sind, habe ich die Stadt sicherlich anders kennengelernt als normalerweise üblich. Ich genieße die Nähe zum Wald und freue mich, dass ich doch schon einige Menschen in der Stadt kennen lernen konnte. Ich habe ein tolles Team und ein schönes Haus vorgefunden und natürlich Unmengen von Arbeit, letzteres war keine Überraschung.

 Was ist ihr Arbeitsansatz für die Kunsthalle Bielefeld?

Das Spezifische vor Ort bildet die Leitplanken. Die Kunsthalle Bielefeld verfügt über eine bestimmte, ja einmalige Form der Architektur und zugleich über eine hervorragende Sammlung, die im frühen 20 Jahrhundert ansetzt. Sowohl Sammlung wie auch Architektur bilden Eckpunkte, um Werke der Gegenwart und historische Kunst miteinander in einem Dialog neu zu sehen. Es ist mir ein Anliegen, Ausstellungen und Werke so zu vermitteln, dass immer auch Bezüge zu unserer Welt und unserem Leben sichtbar werden. Dabei sind überraschende Fragestellungen zu Werken oder Themen wichtig als Einstieg, durchaus ergebnisoffen, anstatt von oben herab „institutionelle Wahrheiten“ zu verkünden. Man kann Werke natürlich immer in rein kunsthistorischen Zusammenhängen beschreiben, das ist aber nur ein erster Schritt. Es geht darum, Wege zur Kunst zu öffnen, die sich aus den Erfahrungen speisen, die wir heute machen. Die Besucher sollen die Möglichkeit haben, mit ihren eigenen Erfahrungen einzusteigen.

Wann fühlen sie sich erfolgreich, wann sind sie zufrieden mit sich und ihrer Arbeit?

Wenn ein gestecktes Ziel erreicht ist und beim Gegenüber gut ankommt, das kann ein Text oder eine Ausstellung oder irgendein anderes Projekt sein. Wenn ich Künstlerinnen und Künstlern ermöglichen kann, neue Werke zu schaffen oder neue Formen der Präsentation zu erproben. Wenn eine Ausstellung, die ich verantwortet habe, sich später in der Karriere einer Künstlerin oder eines Künstlers als eine besonders wichtig herausstellt. Wenn wildfremde Menschen mich ansprechen und mir sagen, dass die Erfahrung der Ausstellung bewegend war und grundsätzlich die Kunsthalle, als ein Ort, an dem Interessantes passiert und Leute mit Neugierde herkommen. Wenn ich jemanden überzeugen kann, in das eine oder andere Vorhaben zu investieren. Ob allein oder gemeinsam im Team: das Gefühl des Erfolgs stellt sich ein, wenn ich merke, dass ich etwas bewegen konnte und dabei andere bewegt oder beflügelt habe.

Wie gehen Sie mit dem Gegenteil, mit Misserfolgen um?

Im ersten Moment ist der Misserfolg nicht schön, sondern entmutigend und kann mich auch von einer energetischen Welle reißen. Zu Erfolg gehört meiner Ansicht nach genauso auch Misserfolg – das eine gibt es nicht ohne das andere. Entsprechend: Misserfolge sind dafür da, daraus zu lernen und in Zukunft, an anderen Stelle Fehler zu machen.

Welche Bedeutung hat das Thema Netzwerken für Sie?

Ich denke, dass man im Bereich der Kultur nur tätig sein kann, wenn man eine bestimmte soziale und kommunikative Ader hat. Die gesamten Geisteswissenschaften kann man als ein großes Konzert von Meinungen und Ansichten verstehen, als ein intensives Gespräch oder einen Diskurs. Wenn man eine Institution leitet, ist man ein Teil davon. Das Netzwerk ist international und wichtig bei der Organisation und Information über Künstler wie Ausstellungen. Genauso wichtig bei der Leitung eines Hauses ist das regionale Netzwerk. Natürlich arbeiten wir auch mit und für die Menschen vor Ort und unser Profil soll auch davon geprägt sein. Deswegen war es wichtig, mit einem Antritt auch in die Stadt zu ziehen, obschon der Schulwechsel für unsere Kinder nicht nur leicht ist.

Sie haben erfolgreich Karriere und Familie unter einen Hut bekommen. Wie haben Sie das geschafft? Was können junge Frauen von Ihnen lernen?

Als Frau eine Karriere zu entwickeln und Familie zu haben – so meine Erfahrung – bedingt erst mal eine gute Partnerschaft, in der der Mann nicht die traditionellen Rollen einfordert, sondern auch bereit ist, sich selbst weiter zu entwickeln und Anstrengung nicht zu scheuen, denn einfach ist es nicht. Ich glaube, es ist das A und O, dieses innerhalb der eigenen vier Wände oder in seinem privaten Umfeld zu erarbeiten und zu organisieren.

Dann braucht man sicher auch Arbeitgeber, die dafür offen sind. Heutzutage ist das schon eher zu erwarten, als vor zehn Jahren und hoffentlich wird es in zehn Jahren noch selbstverständlicher. Flexible Arbeitszeiten oder die Frage, warum hartnäckig daran festgehalten wird, dass Leitungsfunktionen ausschließlich mit einem Vollzeit-Pensum verbunden werden, gilt es zu hinterfragen. Man selbst, der Partner und der Arbeitgeber müssen „outside the box“ denken.

Das wichtigste ist aber die Arbeit an sich selbst. Die Vorstellungen und Erwartungen, die mit der historischen Rollenverteilung einhergehen, kommen immer wieder in die Quere. Das fängt damit an, dass sich Frauen weniger als Männer positive Bilder von Karriere machen und entsprechend sich weniger Ziele in diese Richtung setzen. Ein einfaches Beispiel: „Frau und Karriere“ ist heute immer noch weniger selbstverständlich und klingt sogar in manchen Ohren „verdächtig“ während mit „Mann“ automatisch „Karriere“ mitgedacht wird. Der Begriff „Macht“, der unweigerlich mit Karriere einhergeht, gehört bei Männern selbstverständlich dazu und wird bei Frauen oftmals als etwas Negatives wahrgenommen. Sich durchzusetzen ist wichtig, eine historisch dem Mann vorbehaltene Eigenschaft. Wenn sich Frauen durchsetzen, wird das in der Öffentlichkeit gerne negativ kommentiert, die Frau ist dann „hart“, „bissig“ oder „bossy“, zahlreiche Zeitungsartikel handeln von diesem Narrativ. In der Geschichte wären diese Frauen als Hexe gebrandmarkt oder als Hysterikerin in eine Anstalt verwiesen worden. Es ich wichtig, dass man sich dieser latent negativen Besetzung klar ist, der man unweigerlich begegnet. Die im öffentlichen Raum und Leben handelnde Frau verlässt die historisch angestammte Position und Rolle und kollidiert mit althergebrachten Bildern und Erwartungen an sie, die von der Umwelt gespiegelt werden. Ein extremes Beispiel hierfür ist die Erfindung des Begriffs „Rabenmutter“, welcher leider weiterhin in manchen Köpfen und Herzen rumgeistert. Weder ist mein Mann ein Rabenvater, noch bin ich eine Rabenmutter! Wir leben unserer Tochter und unserem Sohn vor, dass Mann und Frau für das Einkommen sorgen und den Haushalt und die Arbeit der Fürsorge teilen.

Wie sehen Sie heute die Karrieremöglichkeiten von Frauen im Kunstbetrieb? In Bielefeld werden mittlerweile alle wichtigen Kunsthäuser von Frauen geleitet. Kann man sagen, dass die Frauen gleichberechtigt in den Spitzenpositionen des Kunstbetriebes angekommen sind?

Die großen Häuser werden zwar noch immer eher von Männern als von Frauen geführt, aber im Bereich der Museen und Ausstellungshäusern hat sich in den letzten zehn Jahren viel bewegt. Heute ist es so, dass es doch schon viele Frauen in Leitungsfunktion gibt, z.B. Marion Ackermann, Generaldirektorin der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden oder Susanne Gensheimer, Leiterin der Kunstsammlung NRW. Beide Frauen haben übrigens auch Familie. Wir sind die erste Generation, die die Vereinbarkeit von Arbeit und Familie geschafft hat. Weiterhin ist es wichtig, dass Frauen noch mehr in Leitungsfunktionen sichtbar werden. Nur so verändern sich Vorstellungen und Bilder über die eigenen Möglichkeiten.

Wie können Frauenkarrieren weiter gefördert werden?

Das Wichtigste ist: wir brauchen Vorbilder um die Teufelskreise zu überwinden, deswegen bin ich heute auch für die Frauenquote. Als ich studiert habe, gab es keine einzige ordentliche Professorin in meinen Studienfächern in Zürich! Vereinzelt habe ich an Museen oder im Journalismus Frauen in meinem Bereich erlebt. Sie waren sehr wichtig, um für mich selbst eine Vorstellung, über die eigenen Möglichkeiten zu entwickeln. Von Arbeit und Familienleben geprägt, wurde ich je älter ich wurde, desto stärker zur Feministin. Als ich jung war, habe ich den Begriff als einen historischen abgetan! Darüber kann ich heute nur den Kopf schütteln. Ich sehe mich in der Pflicht, jüngere Frauen zu unterstützen, indem ich meine Erfahrungen teile.  

 Wie ist die Karrieresituation für bildende Künstlerinnen heute?

Sagen wir mal so: in der Nachwuchsszene ist das Verhältnis relativ ausgewogen. Je höher man aufsteigt, desto dünner wird die Luft, das gilt im Besonderen bei Künstlerinnen. Ich werde es etwas überspitzt darstellen: Museumsdirektoren müssen immer die Anzahl der Besucher*innen im Blick haben, das wird von uns erwartet. Viele Besucherinnen und Besucher erreichen Sie, wenn Sie weltberühmte Künstler präsentieren, die schon viele Ausstellungen hatten und ihre Werke erfolgreich verkaufen. Das hat zur Folge, dass erst einmal die ausgestellt werden, die bereits gut bekannt und gefeiert wurden, das sind weiterhin weitaus mehr Künstler als Künstlerinnen. Diese bestehende Struktur verstärkt sich gewissermaßen. Die Statistik diesbezüglich ist erschreckend – die wirklich großen Häuser zeigen weitaus mehr Künstler als Künstlerinnen. Die Tate hat letztes Jahr nur Künstlerinnen gezeigt, das war eine politische Aussage und ein Versprechen, in Zukunft stärker auf paritätische Verteilung zwischen den Geschlechtern zu achten. Gerne wird gesagt, es gibt weniger Künstlerinnen als Künstler, dabei wird nicht reflektiert, dass Künstlerinnen bisher immer weniger Gelegenheit geboten wurde, sich zu erproben und zu entwickeln. Schließlich ist jede Ausstellung wichtig für die Fortsetzung eines Werks!

Es gibt viele Studien hierzu. Im Studium sind Künstlerinnen und Künstler paritätisch vertreten. Bei der Suche nach einer Galerie wird es schon schwieriger, weil Galerien ihrerseits auf den Erfolg der Verkäufe angewiesen sind und Werke von Künstlern längerfristig mehr Sicherheit diesbezüglich versprechen. Das heißt, die Galerie investiert zunächst lieber in den jungen Künstler als in die junge Künstlerin. Letztere könnte durch Familiengründung abgelenkt werden zum Beispiel und wird es schwerer haben im Programm der Museen. In der mittleren Altersstufe gibt es entsprechend mehr Künstler als Künstlerinnen, die in Galerien vertreten sind und am Ende schaffen dann mehr Künstler als Künstlerinnen den Durchbruch in die internationalen Ränge. Damit bestätigt sich die Kalkulation der Galerien bei der Aufnahme der jungen Künstler,  dass die Wahrscheinlichkeit, dass der Künstler reüssiert höher ist und wir stehen am Anfang der Erzählung.

Seit knapp zehn Jahren werden diese Studien gemacht und da und dort existieren spezifische Fördermodelle, um die Teufelskreise zu durchbrechen. Auch hier ändert sich erst etwas, wenn genug Künstlerinnen an der obersten Spitze angelangt sind. Heute kennen wir Künstlerinnen wie Louise Bourgeois, Cindy Sherman oder Marina Abramovic. Diese Künstlerinnen sind seit kurzem erst ebenso hochpreisig und übertrumpfen manchmal sogar vergleichbare männliche Kollegen, weil sie als weibliche Künstlerinnen noch einen Seltenheitswert haben! Nichtsdestotrotz bestätigen diese Ausnahmen die Regel. Weil es zu wenige Künstlerinnen im System gibt, können momentan zumindest, immer noch zu wenig Künstlerinnen in die obersten Ränge aufsteigen.

Glauben Sie, dass durch mehr Leiterinnen im Kunstbetrieb mehr Künstlerinnen Chancen erhalten?

Ich glaube schon, dass sich Dinge ändern, wenn es mehr Frauen in einflussreichen Positionen gibt. Wenn es z.B. darum geht, dass Mütter als Künstlerinnen ein Stipendium, das an eine Reise gekoppelt ist, nicht annehmen können, kann eine Jury die Bedingungen anders festlegen, um die Frauen nicht auszugrenzen. Nur wenn Frauen in bestimmenden Funktionen – in diesem Fall der Jury – tätig sind, können sie spezifische Fragen, die mit Einschluss/Ausschluss zu tun haben, auch verändern. In diesen Rollen können Frauen helfen, eine andere Sichtweise einzuführen. Ich habe mal den von mir sehr geschätzten Kollegen Wulf Herzogenrath gefragt, warum in der Zeit, in der er tätig war, in den 1970er und 80er Jahren etwa, so wenige Künstlerinnen ausgestellt waren. Er antwortete, dass sie damals einfach gar nicht über die Möglichkeit nachgedacht haben. Er hat beispielsweise sehr früh schon Ulrike Rosenbach ausgestellt, aber die Frage ob noch andere Künstlerinnen interessant wären oder warum denn überhaupt nur so wenige bekannt waren, hat sich einfach nicht gestellt. Ein blinder Fleck! Auch heute gibt es blinde Flecken. Es geht darum, sich zu hinterfragen, wo die blinden Flecken in einem selbst liegen könnten.